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Samstag, 9. März 2013

Leseprobe aus „Denken – Nach-Denken – Handeln“

Da mal wieder über "Alternativmedizin" diskutiert wird (u. a. bei Amazon hier und an einer zweiten Stelle), mächte ich dazu eine Leseprobe aus „Denken – Nach-Denken – Handeln. Triviale Einsichten, die niemand befolgt“ beisteuern:


Alternative Medizin hat sich seit Jahrtausenden bewährt


Vielleicht werde ich jetzt übermütig und schreibe mich um Kopf und Kragen. Etwas Kritisches über „Alternative Medizin“ zu sagen ist fast ebenso tabuisiert wie ein Angriff auf den religiösen Glauben. Deswegen möchte ich nur eine kleine Begebenheit erzählen und auf den Zusammenhang dieser Geschichte mit unserem Thema „Selektive Wahrnehmung und Selbsterfüllende Prophezeiung“ hinweisen.

Zuerst die Geschichte: Ich erwachte eines Tages mit Schmerzen in der linken Schulter, die ich auf das nachts geöffnete Fenster und meine Schlaflage auf der rechten Seite zurückführte. Obwohl ich von da an das Fenster geschlossen hielt und einige Selbstbehandlungsversuche mit Wärme und Wärmesalben unternahm, blieben die Beschwerden. Der Besuch bei einem guten Facharzt ergab die Diagnose: Entzündung (welcher Art, das habe ich vergessen). Er sagte auch, dass sie spontan aufträte und erfahrungsgemäß nach ein bis zwei Jahren (!) wieder verschwände. Mehr könne man nicht zur Heilung unternehmen, aber zur Linderung der Schmerzen seien physiotherapeutische Maßnahmen sicher angebracht. So begab ich mich in die sanften Hände einer netten jungen Dame, die mich mit leicht schwäbelnder Stimme in die Geheimnisse ihres Berufes und die der Astrologie einführte, während sie meinen Arm durch alle Tierkreiszeichen drehte. Ich verließ die Praxis in angenehmer Trance und in freudiger Erwartung der versprochenen Linderung. Nach zehn Sitzungen hatte sich diese zwar noch nicht eingestellt, aber ich hatte auf Krankenschein angenehme Stunden verlebt.
Eigentlich wäre ich ja zumindest ein perfekter Kandidat für einen handfesten Placebo-Effekt[1] gewesen. Man nennt es auch „Kontexteffekt“, und er beruht weitgehend auf Suggestion. Auslösend sind dabei Faktoren wie eine positive Erwartungshaltung der Patienten gegenüber den „alternativen Methoden“ bzw. eine negative Haltung gegenüber der als unwirksam erlebten „Schulmedizin“ oder eine erhöhte Zuwendung des Behandelnden. Verkürzt gesagt ist es eine „Selbsterfüllende Prophezeiung“: Die seelenlose Schulmedizin[2] kann mir nicht helfen, die seit Jahrtausenden bewährte Erfahrungsmedizin ist ihr weit überlegen. So gibt es viele Heilverfahren, die das Prädikat „Wer heilt, hat Recht“ genießen, die aber keine überzeugenden spezifischen Wirksamkeitsnachweise besitzen. Sie haben auch keinen plausiblen Wirkungszusammenhang, kein verifizierbares Erklärungsmodell. Dazu gehören etwa Homöopathie und Akupunktur. Es gibt z. B. Studien zum Vergleich von Akupunktur zu einer schulmedizinischen Therapie[3], die keine positiven Ergebnisse zeigen, die über den Kontexteffekt hinausgehen. Beispielsweise haben diese Studien gezeigt, dass Akupunktur auch wirkt, wenn die Meridiane nicht getroffen werden.
Was soll ich Ihnen sagen: Nach etwa acht Monaten erwachte ich eines Tages ohne Schmerzen in der linken Schulter – sie kamen nie wieder. Ein „Wunder“, eine Langzeitwirkung der Physiotherapie, eine „Spontanheilung“, ein Zufall?[4] Eine so genannte „Spontanheilung“ ist nach neueren Untersuchungen vermutlich eine Leistung des enorm komplexen und weitgehend unerforschten Immunsystems[5]. Vielleicht war ich unabsichtlich in das Energiefeld eines Fernheilers geraten? Ich werde es nie wissen. Aber es ist ein weiteres Puzzlesteinchen in meinem Glauben, der Körper werde oft selbst mit seinen Problemen fertig. Nicht umsonst gibt es die (Tucholsky zugeschriebene) Regel: „Eine Grippe dauert zwei Wochen, wenn man etwas dagegen tut, und vierzehn Tage, wenn man nichts dagegen tut“. Das mag vielleicht bei einer echten Grippe nicht zutreffen, bei einer „normalen“ Erkältung ist das aber sicher ein Argument.
Den erwähnten Wahlspruch „Wer heilt, hat Recht“ nehmen ja viele „Heiler“ in Anspruch, die über einen kausalen Zusammenhang zwischen ihren Bemühungen und dem Resultat nur Verschwommenes äußern können – für das, wenn es denn stimmen würde, die Gesetze der Physik umgeschrieben werden müssten (man denke nur an „Fernheilung“ durch Telepathie). Die logische Fortsetzung dieses Gedankens würde ja bedeuten, dass nicht nur „Heiler“ ihre übernatürlichen Kräfte auf Menschen anwenden könnten, sondern auch „Unheiler“: Krankmacher, Hexer und Hexen, Voodoo-Prieser, Flüche statt Gebete. Wollen wir wirklich in diese mittelalterlichen Wahnvorstellungen zurückfallen? Das überlassen wir doch lieber den Bühnenmagiern („Mentalisten“) der Uri-Geller-Show. So plötzlich und unerwartet, wie eine Krankheit kommt, so kann sie doch auch wieder verschwinden. Das kennt man ja sogar von technischen Apparaten: „Plötzlich geht er wieder!“.
Therapeuten sind oft nicht im aktiven Sinne Heiler. Die etymologische[6] Wurzel des Wortes im Altgriechischen steckt in therapeutés, das bedeutet „der Diener, Aufwartende, Wärter, Pfleger“. „Therapie“ ist eigentlich ein „zur Heilung hin begleiten“, und das ist ein sinnvoller ganzheitlicher Ansatz, der den Kranken in den Vordergrund stellt und das Wirken des Arztes nicht auf eine bloße Reparatur beschränkt.
Was ist nun aber mit den unbestreitbar zu beobachtenden Heilungen? Die Heiler, sie sind es ja nicht, die heilen – es ist der Organismus des Kranken selbst, der es schafft, die Krankheit zu überwinden. Viele Krankheiten kommen, ohne dass man einen verlässlichen kausalen Zusammenhang herstellen könnte. Ihr seelische Ursachen zuzuschreiben, ist vielleicht nicht falsch, schwächt aber die seelische Kraft des Patienten, der genau diese innere Stärke braucht, um wieder zu gesunden (das Dogma der „Selbstheiler“). Dass jede Krankheit selbstverschuldet ist oder Ursachen in der Seele oder der Lebensführung hat, bürdet den Opfern eine zusätzliche (krankmachende) Last auf und ist ein klassischer Zirkelschluss[7], der als Selbsterfüllende Prophezeiung gewaltiges Unheil anrichten kann. Aber vielleicht sind diese okkulten Heilungen auch nur eine konstruierte Wirklichkeit der Art, wie sie im Bavelas-Experiment in Kapitel 4.1 beschrieben wurde: Ein zufälliges Ereignis (hier die Heilung) muss erklärt werden, bietet aber kein Erklärungsmuster und wird daher mit einer abstrus versponnenen Deutung versehen. Ein demütig das Unerklärliche akzeptierendes „Ich bin krank geworden und ich bin wieder gesund geworden“ würde doch eigentlich ausreichen. Obwohl natürlich niemand bestreitet, dass positive oder negative Gedanken den Körper beeinflussen können – das weiß jeder Verliebte oder jeder Kandidat mit Prüfungsangst.
Während wir zum Wirken und Wesen des Zufalls noch viel sagen werden (Kapitel 11), soll hier der Gesichtspunkt der Selbsterfüllenden Prophezeiung noch abschließend beleuchtet werden. Es sind die unspezifischen (psychologischen) Effekte der Behandlung, die zur (begrüßenswerten) Heilung führen. Die positiven bzw. negativen Erwartungshaltungen der Patienten hatte ich ja schon erwähnt. Vielleicht gehören die „Heilungsrituale“ mit fremdem kulturellen Hintergrund oder gar das Erleben einer invasiven Technik (Nadelung) auch zur Heilungswirkung. Selbst Scheinoperationen erreichen auf manchen Gebieten die Erfolgsquote realer Eingriffe[8]. Von Ethikkommissionen werden Scheinoperationen kritisch bewertet. Sie seien nur dann vertretbar, wenn nur vernachlässigbare Risiken bestehen und der Patient sorgfältig aufgeklärt werde. (Das bereitet Sie schon auf das Kapitel 8 über Paradoxie vor.) Zumindest gibt es auf diesem Gebiet viele Anzeichen für eine klassische Konditionierung: das Erlernen von Reiz-Reaktions-Mustern in der Ausprägung, dass schon ein bestimmter Reiz (Placebo-Gabe) die Reaktion (Heilung) auslöst – ein „Lernen am Erfolg“.
Und was die „seit Jahrtausenden bewährten“ alternativen Verfahren angeht: Wenn das Alter das einzige Kriterium ist, dann haben sich auch die Hinrichtung von Verbrechern, die Beschneidung von Millionen von kleinen Mädchen und die gesamte Unterdrückung der Frau bewährt. Denn der Volksmund sagt (obwohl das anders gemeint ist): „Alter schützt vor Torheit nicht.“
Triviale Einsichten:
  • Ja zum Heilungsergebnis, nein zum pseudowissenschaftlichen Wirkungszusammenhang.
  • Das Alter eines (Aber-)Glaubens ist kein Beweis für seine Richtigkeit.


[1] Im erweiterten Sinne gehören zum Placebo-Effekt neben wirkstofffreien Medikamenten auch alle anderen therapeutischen Maßnahmen, die ohne naturwissenschaftlichen Nachweis einer spezifischen Wirkung trotzdem eine positive Reaktion am Patienten bewirken können.
[2] Studien haben z. B. ergeben, dass beim Arzt im Schnitt etwa 8 Minuten für das „Patientengespräch“ aufgewendet werden – Diagnose und Therapievorschlag.
[3] GERAC (german acupuncture trials = deutsche Akupunkturstudien) hat 6 Studien im Internet: http://www.gerac.de/.
[4] Wunderheilungen im Unterschied zu Spontanheilungen widersprechen vermeintlich den bekannten Naturgesetzen.
[5] „Miracle Survivors“ in FORTUNE 2.3.2009.
[6] Etymologie (von altgriech. étymos = wirklich, echt und -logie = die Lehre von etwas) ist ein Wissenschaftszweig der historischen Linguistik.
[7] Lateinisch: circulus vitiosus (oft auch umgangssprachlich verwendet), wörtlich: fehlerhafter Kreis.
[8] Jörg Blech: Schattenseite der Medizin, DER SPIEGEL 35/2005, 29.08.2005, S. 132 und Oliver Wittkowski: Fortschritte bei der Placebo-Forschung, SWR Fernsehen (Odysso - Wissen entdecken), 15.11.2007, 22:00.

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