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Donnerstag, 4. Februar 2016

Die nächste 5-*-Rezension für "Feedback"


Hier der vollständige Text: 

Dies ist meine erste Rezension, weil ich von dem Buch und seinem Thema (Feedback = Rückkopplung) auf Anhieb so begeistert war. Es lag als Überraschung unterm Weihnachtsbaum, weil ich mich für das Thema Regelungstechnik interessiere. Es öffnet eine völlig neue Sicht auf Fragen, die bisher unlösbar erschienen (z. B. das Henne-Ei-Problem: wer zuerst da war).
Der Mathematiker und Physiker Jürgen Beetz blickt nicht nur über den Tellerrand in ein anderes Fach, er wagt den großen Rundschlag. Rückkopplung in Soziologie und Psychologie, Technik und Natur, Politik und Geschichte, in der Wirtschaft und der Evolution und (wenn schon, denn schon!) im gesamten Universum. Beetz argumentiert im Gefolge vieler Wissenschaftler, dass das Leben und der gesamte Kosmos durch Selbstorganisation mit Rückkopplungsprozessen entstanden sei. Selbstverstärkende Prozesse haben sich aus einer (oft zufälligen) Art Keimzelle sozusagen „hochgeschaukelt“ – durch das, was man „positive Rückkopplung“ nennt, bis die „negative Rückkopplung“ das Ganze dann stabilisiert hat. Da werden manche Theisten heftig widersprechen. Ich bin ja misstrauisch gegen Leute, die mir die ganze Welt mit einem einzigen Prinzip erklären wollen. Aber ich habe bei Beetz keine Argumentationsfehler entdeckt.
Eine Kneipp-Kur des Geistes: Mal einfache Geschichten, mal etwas schwierigere Erläuterungen. Ein Wechsel zwischen Spannung und Entspannung beim Lesen, zwischen scharfem Denken und freier Assoziation von eigenen Erlebnissen. Hier regiert offensichtlich der KISS-Approach (Keep it simple, stupid!). Begriffe und ungebräuchliche Fremdwörter werden erklärt, oft mit ihrem Wortstamm. „System“ bedeutet z.B. „zusammengesetztes Ganzes“. Aha, das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Das ist zwar nichts neues, aber es wird ausführlich in seinen Konsequenzen beleuchtet.
Einzelheiten des Themas „Feedback“ werden ausführlich erläutert, schwierige Sachverhalte an einfachen Problemen des Alltags illustriert. Unglaublich, wie Beetz dieses komplexe Thema mit allen seinen Fachbegriffen (siehe Tag Cloud auf der Titelseite!) in einfachen und manchmal erheiternden Geschichten darstellt! Oder mit verblüffenden Fragen wie: „Papi, ab wie vielen Körnern ist ein Sandhaufen ein Haufen?“
So ergibt sich ein abwechslungsreich zu lesendes Buch, das auch gleich noch mit vielen Fehl- und Vorurteilen des Lebens aufräumt. Dazu gehören viele „entweder/oder-Fragen“, z. B. bestimmt das Sein das Bewusstsein oder das Bewusstsein das Sein? Beides kann nicht sein, glauben viele. Falsch! Beetz zeigt (wie in vielen anderen Fällen) dass beides in einem Feedback-Verhältnis zueinander steht. Sie beeinflussen sich gegenseitig. Diese Regelkreise ziehen sich durch unser gesamtes Leben in allen seinen Bereichen. Ein interessanter Ansatz!
Doch das Buch ist weit mehr als nur die Erklärung eines universellen Prinzips und die Illustration mit netten Geschichten. Es ist ein #Aufschrei gegen die Missachtung der vielen Rückkopplungsschleifen in der Natur und die daraus resultierende Zerstörung unserer Welt, sei es durch Kriege oder den zügellosen Verbrauch von Ressourcen, sie es durch Umweltzerstörung und alle anderen Selbstvernichtungsanstrengungen der Menschen. Auch die Teufelskreise in Politik und Wirtschaft, die selbstverstärkende Unmoral der Finanzwirtschaft und die Ungleichheit in der Welt werden angeprangert. Auch die Geschichten über Rückkopplungseffekte bei Vorurteilen und Fremdenhaß zeigen eine klare moralische Botschaft. Beetz meint, der Grund sei die undurchschaubare Vernetzung der komplexen rückgekoppelten Systeme in der Welt. Insofern ist es ein Aufklärungsbuch, das uns diese Querverbindungen sehen lässt und zur Achtsamkeit im Umgang mit diesen Feedback-Prozessen gemahnt. Aber eine Erklärung ist keine Entschuldigung, denn Beetz bezieht Stellung gegen die Dummheit und Ignoranz der (genauer: vieler) Menschen, gegen ihre Ausbeutung und Ausspähung. Er scheut sich nicht, Warren Buffet zu zitieren mit seiner Einordnung der modernen Finanzprodukte als „Massenvernichtungswaffen“. Denn er ist auch politisch aktuell und bezieht eine humanistische Position. Ein selten informatives _und_ moralisches Buch! Voller überraschender, origineller und humorvoller Ideen („Spiele der Erwachsenen“, Sand als bedrohte Ressource, emotionaler Dekubitus, Kommunikationseisberg, hawaianisches Vulkanveilchen, Schneehase und Birkenspinner, die 2 „Ichs“ in uns und --- offensichtlich sein Lieblingsspruch --- „mehr ist anders“ usw.)
Er analysiert auch platzende Spekulationsblasen wie durch den gerade fallenden Ölpreis. Nie war ein Buch aktueller in seiner Erklärung der zu Grunde liegenden Prinzipien. Er liebt die selbstbezüglichen und dadurch oft paradoxen Sätze, und daher kann ich die Aussage seines Buches in einem solchen Satz zusammenfassen: die Intelligenz des Menschen brachte so komplexe Systeme hervor, dass sie diese nicht mehr durchschauen und beherrschen kann.
Aktuell schreibt die Presse über die Flüchtlingskrise, dass sich Europa in einer destruktiven Spirale befindet. Die Politiker sollten Beetz’ Buch lesen, dann würden sie hier Regelkreise ohne Ende entdecken! Denn gerade im gesellschaftlichen und politischen Bereich finden wir ja unzählige Beispiele des von Beetz angeprangerten monokausalen Denkens, das vernetzte und rückgekoppelte Systeme nicht beachtet.
Formalitäten: aussagekräftige, aber grafisch unoriginelle (bis auf eine) Abbildungen, umfangreiche und mit Quellen belegte Zitate.
Struktur: übersichtliche Kapiteleinteilung mit einführenden Überschriften, aussagekräftigen Unterkapiteln und Zwischenüberschriften, die die Lesbarkeit erhöhen. Umfangreiches Literatur- und Stichwortverzeichnis. Gut auch: für Schnelleser eine Zusammenfassung am Kapitelende.
Cover: Schöne Idee mit der Tag Cloud, die aber grafisch ansprechender hätte aufbereitet werden können und mit mehr Keywords. Auch innen ist das Corporate Design des Verlages uninspiriert (vergleicht man US-amerikanische Bücher). Aber dafür kann Beetz ja nichts.
Daher Bottom line: Absolut lesenswert, 5 Sterne.
PS: leider gibt es (noch?) keinen „Blick ins Buch“ für den Hardcaver

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